Tagesgespräch von Radio SRF vom 21.11.2023

Am 21.11.2023 war Prof. Dr. Beat Döbeli Honegger Gast bei Ivana Pribakovic im Tagesgespräch von Radio SRF:

Ist ChatGPT in den Unterricht zu integrieren? Oder eben nicht? Und verblödet die Schülerschaft, wenn künstliche Intelligenz vieles schneller und mit der Zeit besser bewältigen kann als der Mensch? Beat Döbeli ist überzeugt, dass dies nicht der Fall ist. «Schon die alten Griechen fürchteten, wegen der Wachstafel die Merkfähigkeit einzubüssen», so der Institutsleiter im Tagesgespräch.

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Als der Chatbot ChatGPT Ende 2022 veröffentlicht wurde, gab es einen richtigen Hype in den sozialen Medien und auch sonst in den Medien. Was viele von uns mit Interesse beobachten, ist für die Schule essentiell, wie man mit den neuen Möglichkeiten umgehen soll. Beat Döbeli ist Professor für Digitalisierung und Bildung an der Pädagogischen Hochschule Schweiz. Er beschäftigt sich u.a. mit der Frage, welche Auswirkungen solche Mittel wie ChatGPT auf die Schule und Schülerinnen und Schüler haben wird. Herr Döbeli, grundsätzlich, fängt mit ChatGPT eine neue Ära an?

Es ist ein weiteres Kapitel in der digitalen Transformation, ja.

Kann man das vergleichen mit der Zeit, als das Handy kam, das Smartphone?

Z.B. mit der Zeit, als das Smartphone kam. Im Moment ist es ähnlich, als das Internet und die Suchmaschinen kamen. Vor 25 Jahren gab es Kurse "Alta Vista für Lehrpersonen". Man brachte Lehrpersonen bei, wie man mit dem Internet umgehen kann. Auch dort war die Angst, dass Schülerinnen und Schüler nicht mehr selbst denken, sondern alles aus dem Internet herunterladen. Jetzt hat man das Gefühl, Schülerinnen und Schüler denken nicht mehr, sondern lassen alles durch Chatroboter schreiben.

Sie sind in diesem Fall, wenn ich das so höre, viel gelassener als die meisten Lehrpersonen.

Ich bin mir nicht sicher, ob alle Lehrpersonen aufgeregt sind. Es gibt gewisse, die aufgeregt sind. Aber dadurch, dass ich schon mehr als 25 Jahre in diesem Gebiet arbeite, merke ich, dass gewisse Dinge neu sind und uns alle überfordern. Andere Sachen wiederholen sich regelmässig und man gewisse Muster erkennen kann.

Wo stehen wir als Gesellschaft in Bezug auf künstliche Intelligenz und solche Tools wie ChatGPT?

Das finde ich extrem schwierig zu sagen. Es gibt Expertinnen und Experten, die sagen, das sei erst der Anfang, jetzt geht es richtig los. Ich habe kürzlich von der ETH Zürich gehört, die gesagt hat, wir seien am Ende einer Entwicklung. Denn jetzt wurde die Leistungsfähigkeit erreicht von etwas, das es schon seit 40, 50 Jahren gibt. Was man aber sicher sagen kann, ist, dass wir alle überfordert sind. Alle, die versuchen, Antworten auf die Frage zu finden, wie es weitergeht, was wir machen müssen, kann man im Moment nicht. Ich glaube, das ist ein Charakteristikum der Entwicklung, dass sie so schnell geht, dass alle Bereiche zuerst aushalten müssen, dass sie nicht wissen, was genau passiert.

Das zeigt sich auch bei ChatGPT. Da gibt es ständig neue Versionen.

Das ist so. Dieses Monat war eine Pressekonferenz einer Entwicklerkonferenz, die ChatGPT produziert. Sie haben wieder neue Dinge herausgebracht. Da bewegt sich das Rad wieder. Auf der Produktebene, also im schnelllebigen Bereich muss man gewisse Dinge neu anschauen.

Was heisst das für die Schule, wenn sich so schnell etwas verändert?

Das ist für die Schule nicht ganz neu. Es gab schon früher Entwicklungen, die schneller gingen und man sich an gewisse Dinge gewöhnen musste. Auch für die Schule gilt, dass man es einerseits aushalten muss, damit man nicht schon heute eine Antwort weiss und der Kanton oder die Schule nicht schon eine Regelung hat, wie man damit umgeht. Andererseits muss man aktiv ausprobieren, jetzt schon schauen, was geht, im Wissen darum, dass man noch nicht die Lösung hat, wie es in zwei Jahren sein wird.

Wie motivieren Sie die Lehrerinnen und Lehrer? Ich vereinfache es sehr. Es gibt die, die alles ausprobieren und sofort mit der Tablet, mit dem Computer alles machen wollten. Andere finden, kopierte Blätter mit einem Lückentext sind immer noch besser.

Das ist nichts Neues seit ChatGPT. Wir haben im Moment in den meisten Kantonen der Deutschschweiz die Einführung des Lehrplan 21 mit dem neuen Schulfach Medien und Informatik hinter uns. Dort haben wir das erlebt. Die Lehrpersonen, die schon lange damit arbeiten, und die, die man überzeugen musste, dass es jetzt wirklich im Lehrplan steht und man es tatsächlich muss. Letztendlich muss man versuchen, die Lehrpersonen zu überzeugen, dass sie Kinder auf die heutige und die morgige Welt vorbereiten wollen und ihnen helfen, mündig umzugehen. Diese Welt besteht aus solchen digitalen Dingen. Man kann sie also nicht ganz aus der Seite lassen und bei nur den alten Dingen bleiben.

Wie haben Sie es gemacht, die Lehrerinnen und Lehrer dafür zu holen?

Indem man aufzeigt, was man für coole Dinge damit machen kann. Indem man ihnen Unterlagen ...

Zum Beispiel?

Wenn man den Unterricht spannender machen kann. Nicht mit ChatGPT, sondern mit früheren Dingen. Wenn man zeigen kann, dass es nicht nur im professionellen Radio einfacher wurde, auch in der Schule. Wenn man vor 20, 30 Jahren ein Hörspiel mit Schülerinnen und Schülern hätte machen wollen, so wäre dafür eine Projektwoche notwendig gewesen. Heute kann man sagen: "Liebe Schülerinnen und Schüler, nehmt euer Handy mit" und das Schnittprogramm ist schon auf dem Handy drauf. Das gibt Möglichkeiten, den Unterricht spannender zu machen und die Schülerinnen und Schüler zu merken, dass Sachen und Werkzeuge thematisiert werden, die sie in ihrem Privatleben kennen. Damit sind Schülerinnen und Schüler wieder mehr dabei.

Welche Rolle spielt die Schule in diesem Moment, in dem künstliche Intelligenz Fuss fasst? Die Schule als solche, als Institution in diesem Umfeld?

Wie immer. Was man meistens zu hören bekommt: Sie spielt eine grosse Rolle. Die Schule ist der Ort, wo alle unabhängig von Einkommen, Bildungsstand der Eltern usw. eine Ausbildung für das Leben bekommen. Es geht darum, dass sich die Schule überlegen muss, was das bedeutet. Wie bringen wir Schülerinnen und Schüler bei, wie man die neuen Werkzeuge zielführend einsetzen kann? Welche Risiken muss man kennen? Wie viel muss ich darüber verstehen, wie so ein System funktioniert, damit ich es sinnvoll einsetzen kann? Das ist eine grosse Herausforderung für die Schule. Wie verändern sich Lernziele allgemein, weil die neuen Werkzeuge da sind?

Auch hier gerne ein Beispiel!

Was machen wir, wenn wir davon ausgehen, dass die meisten Texte in zehn Jahren nicht mehr von Menschen, sondern vom Computer geschrieben werden? Welche Bedeutung hat z.B. Rechtschreibung? Das ist eine Frage, die man sich stellen konnte, als die ersten digitalen Textverarbeitungen aufkamen. Textverarbeitungen werden immer besser Rechtschreibefehler erkennen. Was bedeutet das? Müssen wir mehr mit den Schülern Rechtschreibung üben? Oder ist es nicht mehr so wichtig, weil die Maschine es übernimmt? Ähnliche Fragen stellen sich heute mit Textgeneratoren und Bildgeneratoren. Was muss ich selber noch wissen? Wo kann ich mir Hilfe holen?

Wir stehen gerade alle Haare zu Berge, wenn ich mir vorstelle, dass man nicht mehr richtig schreiben lernt, sondern dass die Maschine übernimmt. Was ist Ihre Position?

Wie es schon beim Taschenrechner und bei jeder neuen technischen Erfindung war, muss man die Dinge, die einem eine Maschine abnimmt, mindestens im Grundsatz verstehen. Sonst weiss man nicht, was die Maschine macht, weil man der Maschine ausgeliefert ist und nicht einschätzen kann, was man mit den Ergebnissen machen soll. Vor 30, 40 Jahren wurde der Taschenrechner eingeführt. Wir lernen heute noch Kopfrechnen, weil wir wollen, dass Menschen einigermassen das kleine ein mal eins beherrschen und bei grösseren Rechnungen abschätzen können, ob es stimmen kann. Wenn der Taschenrechner sagt: «Es sind 2 Mio.», dass sie dann nicht einfach sagen: "Das muss stimmen, denn das hat eine Maschine gesagt." Auf der anderen Seite hat sich der Matheunterricht extrem geändert. Meine Eltern haben noch von Hand Wurzeln gezogen. Als ich das erfahren habe, dachte ich: "Wow, das kann man von Hand!" Ich brauchte in der Schule den Taschenrechner. Das hat nicht gestört. Ich habe in meiner Schulzeit noch von Hand schriftlich dividiert. Ich habe das seitenweise geübt. Mit dem Lehrplan 21 sagte man, das sei nicht mehr realistisch. Heute haben alle Leute jederzeit einen Taschenrechner zur Verfügung. Es wird zwar in den Lehrmitteln noch gezeigt, wie man schriftlich dividiert, aber es wird nicht mehr geübt, weil man sagt, das mache niemand mehr wirklich. Dafür kamen andere Themen in der Mathe dazu, die durchaus anspruchsvoller sind.

Z.B.?

Daten und Zufälle. Man schaut heute mit Schülerinnen und Schülern in jüngeren Jahren die Wahrscheinlichkeitsrechnung an. Das machte man früher weniger. Jetzt, noch bevor die GPT-Chat-Modelle kamen, sagte man, das gewinne eine Bedeutung. Wenn man jetzt weiss, dass solche Sprachmodelle mit Statistik funktionieren, ist es relevanter geworden, etwas über Statistik zu wissen.

In diesem Gespräch übernehme ich den Part, der konservativere Weltanschauungen vertritt, damit Sie zu diesen Aussagen kommen können. Ich stelle die Hypothese auf.: "Gut, wenn ich nicht mehr richtig Kopf rechnen muss, wenn ich nicht mehr wirklich richtig gut schreiben muss, sondern den Text erkennen und verstehen muss, werde ich mit der Zeit dümmer, wenn ich so viele Fähigkeiten auslagere."

Da klingen Sie wie ein alter Grieche! Schon die Griechen haben sich mit der Erfindung der Wachstafeln darüber beklagt, dass die Referenten nicht mehr wirklich gut Sachen auswendig vortragen und nicht mehr gute Reden halten, sondern immer von der Wachstafel abhängig sind. Damit haben wir die Entwicklung bei jeder technischen Erfindung, dass man gewisse Dinge an ein künstliches Werkzeug, an eine Maschine auslagert und man dann tatsächlich weniger kann. Wir könnten 40 Jahre zurückgehen und das gleiche Gespräch führen und sagen, dass die Menschheit mit der Einführung des Taschenrechners dümmer wird. Jetzt könnten wir zurückkommen auf heute und uns überlegen, ob die Menschen wirklich dümmer geworden sind. Es gibt wahrscheinlich Anzeichen dafür. Auf der anderen Seite sagen wir, dass wir als Menschheit insgesamt vermutlich schlauer geworden sind und in einer Zusammenarbeit mit der Maschine Sachen gemacht haben, die wir nicht konnten.

Ich habe die Studie leider nicht präsent. Ich weiss aber, dass es eine Studie gab, die aufzeigte, dass wir im Verlauf des Jahres 2000 bis 2023 tatsächlich bezüglich IQ etwas dümmer wurden. Aber gut, ich lasse das einfach mal im Raum stehen. Ich denke mehr, wenn man Sachen auswendig lernt ... Früher lernte man Jahrzahlen, Gedichte. Das ist jetzt wahrscheinlich ein nutzloses Wissen.

Nicht komplett. Einerseits ist es immer noch wichtig, Sachen auswendig zu lernen, damit man das Hirn trainiert und das quasi kann. Andererseits kam schon bei der Einführung des Internets die Idee, man müsse nichts mehr wissen, man könne alles nachschauen. Bald zeigte sich, dass wenn ich keine grundsätzliche Ahnung habe, wie die Welt aufgebaut ist, was die wichtigen Begriffe sind, dann helfen mir Wikipedia und Google nicht. Genauso ist es, wenn ich keine Ahnung dieser Welt habe. Dann weiss ich nicht, worüber ich mit einem Chat-Roboter sprechen soll. Ich verstehe auch nicht, was für eine Antwort kommt. Ich kann es auch nicht einschätzen. Damit die Schule, die Bildung, die Gesellschaft erneut an einem Schritt stehen, wo sie merkt, die Welt hat sich geändert, müssen wir erneut schauen, das Weltwissen wird immer grösser. Welcher Teil davon muss weiterhin vermittelt werden, damit man mit diesen Maschinen zusammenarbeiten kann?

Wir sind uns in diesem Fall einig, dass Vernetzung von Themen und Gedanken erst dann entstehen kann, wenn eine gewisse Grundbildung da ist.

Absolut.

Wie definieren Sie jetzt, was diese wichtigen Dinge sind?

Das kann ich nicht und ich glaube, das kann keine einzelne Person. Dafür gibt es von Zeit zu Zeit Leute, die sich zusammensitzen und sich beispielsweise Lehrpläne überlegen, miteinander streiten, was das Wichtige und das weniger Wichtige ist. Die meisten Leute haben das Gefühl, dass ihr Themengebiet, ihre Weltsicht das Wichtigste ist. Das führt dazu, dass Lehrpläne meist überladen sind und Lehrpersonen sich darüber beklagen, dass zu viel drinsteht. Aber letztendlich kommt man zu einem Kompromiss, was in einen Lehrplan gehört. Das war beim Lehrplan 21 nicht anders!

Also hat man auch darüber gestritten: "Wieviel machen wir über die Römer, die alten Griechen? Machen wir die Französische Revolution oder nehmen wir das spanische Königshaus und die Kolonialisierung mit?"

Ich bin kein Geschichtsdidaktiker, aber ich kenne diesen Streit. Es ging darum, wie viele Jahreszahlen man noch wissen muss. Ist das Rütli als Jahreszahl wichtig oder ist es eher wichtig, dass man Strukturen erkennt und dass man weiss, dass gewisse Dinge in der Geschichte sich wiederholen und wenn ich heutige Konflikte anschaue, kann ich zurückblicken und sagen, dass wir das früher auch hatten. Dort ging ein Streit unter Historikern und mit der ganzen Gesellschaft los, auch in der Schweiz. Darum gab es eine Vernehmlassung, wie viel Faktenwissen noch sein muss und wie viel man weggehen kann und sagen kann: "Wenn man die genaue Jahreszahl braucht, kann man nachschauen. Aber man muss verstehen, was vor was standfand und so."

Gut, Beat Döbeli, jetzt haben wir in die Richtung gesprochen: "Was sind die Probleme?" Drehen wir die Sache doch mal uns schauen wir uns das mal anders an. Wenn wir jetzt ChatGPT - als Beispiel für Textgeneratoren - brauchen könnte, aber man braucht es in der Schule nicht, ist das komisch?

Wenn man es gar nicht in der Schule brauchen würde, wäre es komisch. Das wäre ähnlich komisch, wie wenn man heute sagen würde, man brauche keine Computer insgesamt in der Schule, weil das nur Ablenkung ist und: "Das können sie später im Beruf noch lernen." Wenn man z.B. schaut, ist es eine relevante Frage, ob man einen Maturaufsatz heute am Computer schreibt oder ob man ihn von Hand schreibt. Wenn ich ihn von Hand schreibe, weil die Schule sagt, wir wollen nicht, dass am Maturaufsatz Computer eingesetzt werden, hat das Konsequenzen für den Deutschunterricht in den drei Jahren davor. Man schreibt ganz anders auf dem Computer, als man von Hand schreibt. Da gibt es schöne Untersuchungen. Journalistinnen und Journalisten, die noch aufgewachsen sind mit der Schreibmaschine, können - da wären wir wieder beim Argument des Dümmerwerdens... - eine Geschichte linear aufbauen. Die wissen einfach: "Ich muss von Anfang an den roten Faden haben, weil es so mühsam wird, das umzustellen." Jüngere Journalistinnen und Journalisten, die schon mit Copy, Paste und Umherschieben mit der Maus aufgewachsen sind, wissen: "Ich kann mit dem Fazit anfangen und umstellen, und das passt besser." D.h., es gibt schöne Videostudien, die zeigen, wie die Texte anders entstehen. Das bedeutet, wenn ich das an einer Prüfung komplett verbiete, hätte das Auswirkungen auf den ganzen Unterricht, und ich würde Schülerinnen und Schüler auf einer Welt vorbereiten, die es so nicht mehr gibt. Wann, ausser in einer Prüfungssituation, muss man noch vier Stunden vor einem Blatt Papier sitzen und einen längeren Text schreiben? Das machen die wenigsten Leute heute noch.

Aber das ist wahrscheinlich die beste Möglichkeit, um zu ausschliessen, dass man aus jetziger Sicht betrogen hat,. dass man mit einer Maschine einen Text geschrieben hat, und nicht alleine.

Da muss es schon andere Lösungen geben. Es kann nicht sein, dass man digitale, gute Technologie nicht einsetzt, aus Angst, dass es damit betrogen wird. Da müssen wir schauen, wie man, entweder, wenn es sein muss, den Bildschirm aufnehmen kann oder dafür sorgen, dass das nicht passiert. Aber es wäre eine verquere Welt, wenn die Schule aus Angst vor Betrug gewisse Werkzeuge dauernd verbieten würde. Das man sie zwischendurch verbietet ist logisch. Auch in der Primarschule gibt es Prüfungen, bei denen man den Taschenrechner nicht brauchen darf. Aber man sagt nach einer gewissen Zeit, dass nicht mehr das Kopfrechnen relevant sei, und es somit keine Rolle mehr spiele, ob der Taschenrechner da ist oder nicht.

Das würde darauf hinzielen, dass man sagt, wenn jemand nicht 4 A4-Seiten schreiben kann ohne Computer, macht das nichts.

Ehrlich gesagt, ich kenne ein paar Leute, die für die Liz-Prüfung geübt haben, wieder von Hand zu schreiben und ein Schmerzmittel vor der Prüfung genommen haben, damit sie 4 Std. durchhalten mit Schreiben. Von daher bin ich nicht sicher, ob das schlimm ist, ausser bei Liebesbriefen, wenn man nicht ohne Computer schreiben kann. Das ist für mich ähnlich, wie ich auch nicht ohne Zündhölzer Feuer machen können muss. Man hat heute Zündhölzer, wenn man Feuer macht, und ich habe heute ein digitales Werkzeug dabei, wenn ich einen Text schreibe. Dafür wird von mir auch mehr erwartet. Man weiss auch, - mindestens war das vor zehn Jahren so- dass Schüler einen Drittel mehr geschrieben haben, wenn sie digital schreiben konnten. Damit verlagert sich, was an Qualität verlangt wird, wie viele Rechtschreibefehler wir tolerieren. Ich bin bei meinen Studierenden viel härter mit Rechtschreibefehler. Denn; "Liebe Leute, der Computer hat es euch garantiert gesagt und rot unterstrichen, dass das falsch ist. Wenn man es immer noch mit Fehlern abgibt, ist das schludrig und es gibt eine schlechtere Bewertung!". Darum verlagert sich, was eigentlich die Leistung, die jemand bringt, was Relevante. Nicht mehr die Handschrift, sondern, dass man kann einen adressatengerechten, lesbaren Text produzieren kann.

Gut, jetzt gehe ich noch eine Stufe tiefer und sage, wenn man die Dinge schreibt und sie lernt, den Inhalt lernt, kann man es sich besser merken, wenn man es von Hand schreibt, als wenn man es in den Computer tippt. Auch dafür gibt es Studien.

Es gibt unterschiedliche Studien. Es gibt viele, die das so sagen, wie Sie es beschreiben. Es gibt aber auch andere Studien, die sagen, es liegt daran, dass die Leute, die dort geprüft wurden, analog sozialisiert wurden. Die sind aufgewachsen mit Handschrift. Wenn sie die Zeit, die sie brauchen, um die Wörter zu schreiben, für eine schlaue App, die automatisch merkt, welche Wörter man kann und welche nicht, verwenden, dann ist die Lernzeit besser eingesetzt. Es hängt sehr vom Alter der Lernenden ab, es hängt sehr vom Thema ab. Es gibt eine berühmte Studie, die häufig zitiert wurde, warum der Stift mächtiger ist als die Tastatur. Man versuchte, diese Studie zu replizieren, d.h., sie nochmals durchzuführen. Die Leute scheiterten und konnten die Ergebnisse nicht in gleicher Art herstellen.

Es ist eine spannende Diskussion. Es gibt eine Studie, die zeigt, dass Männer offenbar mehr ChatGPT und generell mehr Interesse haben an künstlicher Intelligenz als Frauen. Kann man pauschal sagen, dass die, die mehr KI-affin sind und mehr das ausprobieren wollen, in Zukunft im Vorteil sein werden?

Unabhängig von der Studie über Frauen, die ich nicht kenne, würde ich sagen: "Ja. solche Werkzeuge werden relevant werden als Teil einer Werkzeugpalette für die heutige Welt." Darum sollte man sich damit auseinandersetzen und wissen, wo die mich unterstützen. Wenn ich mich diesen Werkzeugen ganz verweigere, werde ich vermutlich schlechter sein als diejenigen, die sie nutzen.

Meine Frage zielt dahin, dass man versucht, die Gleichstellung zu fördern. Wenn jetzt aber ein Tool kommt, das die Frauen - naja nicht benachteiligt, denn das wäre ja selbst verschuldet, weil die Frauen weniger Affinität dazu haben - sieht das danach aus, als gäbe es wieder einen Unterschied zwischen Frauen und Männern.

Ich weiss es nicht. Aber ob der Effekt bleiben wird, wissen wir nicht. Es kann auch sein, dass Männer technikverliebter sind und jetzt, wo man es noch nicht so produktiv ausprobieren kann, viel mehr Zeit damit verschwenden, das alles auszuprobieren. Wenn man dann langsam weiss, wie man es effizient brauchen kann, holen die Frauen wieder auf.

Wie ist es bei den Schülerinnen und Schülern? Merkt man, dass gute Schüler eher Zugang haben?

Zu ChatGPT weiss ich noch nichts, ausser Episodisches bei den eigenen Studierenden. Bei anderen digitalen Werkzeugen ist es so, dass Schülerinnen und Schüler, die sonst vifer und agiler sind, schneller die Möglichkeiten packen, die neue Technologien bieten, als die weniger vifen Schüler.

Was kann man tun, damit es keinen noch grösseren Unterschied gibt zwischen den guten und den weniger guten?

Die eine Frage ist, ob man wirklich etwas dagegen machen muss. Wenn beide vorwärtskommen, wäre es nicht so schlimm. Zum anderen wäre es eine Begründung, warum sich die Schule damit beschäftigen muss. Vielleicht haben sich die viferen Schüler schon zu Hause damit auseinandersetzt. Entweder weil sie es selbst gefunden haben oder weil die Eltern darauf hingewiesen haben. Die Schule ist der Ort, wo allen jungen Menschen gesagt wird: "Das ist etwas Wichtiges, damit müsst ihr euch auseinandersetzen. Wir helfen euch, wie ihr das gewinnbringend einsetzen könnt."

Wir haben vorhin darüber diskutiert, ob die Gesellschaft dümmer wird. Könnte man auch Thesen aufstellen, dass sie gescheiter wird?

Können wir. Es hindert uns niemanden, solche Thesen aufzustellen. Insbesondere, weil niemand die Antwort weiss. Bisher war es meistens so, dass die Menschheit gelernt hat, wie sie in Zusammenarbeit mit der neuen Technologie besser wurde. Das wäre die Hoffnung, dass uns die Maschine nicht ersetzt oder überflüssig macht, sondern dass man merkt, wo der Mensch besonders gut ist, wo die Maschine besonders gut ist und wie man in einem geeigneten Zusammenspiel noch bessere Ergebnisse erreichen kann.

Wo sehen Sie das Potenzial, was die Schulbildung angeht?

Einerseits könnte es durchaus auch zu mehr Gerechtigkeit führen. Klingt erstaunlich. Vorhin sprachen wir darüber, dass die Schere auseinandergehen und die viferen Schüler schneller lernen. Umgekehrt kann man sagen, dass man bis jetzt als Schüler von einem Elternhaus abhängig war, das unterstützen konnte. Ein gutes Elternhaus kann nie durch etwas anderes ersetzt werden. Aber wenn ich trotzdem eine Art Chatbegleitung habe, die mir gewisse Fragen beantworten kann, die vielleicht noch besser als eine Suchmaschine geeignet ist, kann mir das helfen. Wenn ich z.B. nicht in der Schule mit meiner Muttersprache, sondern fremdsprachig bin, kann ich mir jetzt plötzlich Dinge übersetzen lassen. Ich kann Texte, die ich nicht verstehe, einfacher formulieren lassen. Damit kann das durchaus ausgleichend wirken und mehr Möglichkeiten bieten, um Schülerinnen und Schüler auf verschiedenen Ebenen abzuholen.

Wie heikel ist es, dass ChatGPT einem Unternehmen, einem Privaten gehört? Stichwort Datenschutz.

Das ist kein neues Problem, sondern das haben wir schon bei bisherigen Plattformen. Man muss immer schauen, wohin die Daten fliessen, was die Firmen damit machen. Im Moment weiss man nicht genau, wie die Daten verwendet werden. Da ist die Frage, ob sich das technologisch so weiterentwickelt, dass man solche Systeme irgendwann auf dem eigenen Computer haben und damit eine grössere Kontrolle haben kann, was mit den Daten passiert, als dass ich sie nach Amerika schicken muss.

Leute über 50 oder 60 hört man in letzter Zeit häufig sagen, dass man froh ist, nicht mehr 20 ist. Wie geht es Ihnen?

Ich finde es extrem spannend, dass ich im Zeitalter aufwachsen und älter werde, in welchem ich solch spannenden Dinge erlebe. Als ich Informatik an der ETH studiert habe, dachte ich durchaus, Informatik sei nicht ganz unwichtig. Ich hätte damals aber nie erwartet, dass das so eine grosse Bedeutung bekommen würde. Ich finde es deshalb extrem spannend.

Beat Döbeli, vielen Dank für den Besuch im Tagesgespräch.

Sehr gerne, danke!
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Die Website gmls.phsz.ch ist eine seit Dezember 2022 laufend erweiterte Sammlung von Einordnungen der Professur "Digitalisierung und Bildung" der Pädagogischen Hochschule Schwyz zur Frage, welche Auswirkungen generative Machine-Learning-Systeme wie ChatGPT auf die Schule haben.

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Zitationsvorschlag: Döbeli Honegger, Beat (2023). ChatGPT & Co. und Schule. Einschätzungen der Professur "Digitalisierung und Bildung" der Pädagogischen Hochschule Schwyz. https://gmls.phsz.ch/ (abgerufen am 21 Nov 2024)