Auch abgesehen von der alles und nichts umfassenden Definition lohnt es sich meist nicht, auf die Potenziale künstlicher Intelligenz zu schielen. Für den Erfolg spielt es im Alltag selten eine Rolle, mit welcher Technologie die eingesetzten Computer genau arbeiten. Wichtiger wäre es, unabhängig vom aktuellen KI-Hype darauf zu achten, ob die Potenziale der Digitalisierung insgesamt ausgeschöpft werden.
Auch Jahrzehnte nach der Erfindung und Verbreitung des Computers betreiben wir oft noch eine Art «Schreibmaschinen-Digitalisierung»: Wir nutzen Computer weitgehend als bequemere Schreibmaschinen und ignorieren viele Potenziale. Vermutlich kommt Ihnen sofort ein entsprechendes Beispiel aus dem Berufs- oder Privatleben in den Sinn. Ein Paradebeispiel: Jemand erstellt in der Textverarbeitung eine Tabelle und zählt am Schluss die Zahlen «von Hand» mit dem Taschenrechner zusammen. Statt sich also durch den aktuellen KI-Hype verunsichern zu lassen, sollten wir eher darauf achten, was Digitalisierung für unsere Arbeitsabläufe bedeutet. Dabei geht es nicht nur darum, in bestehenden Prozessen Optimierungspotenzial durch den Einsatz von Computern zu finden. Wir müssen uns grundsätzlicher überlegen, welche Potenziale der Digitalisierung noch brachliegen. Und noch grundsätzlicher: Wir müssen erst prüfen, ob sich aufgrund der Digitalisierung nicht die Umstände so geändert haben, dass eigentlich ein ganz anderer Prozess sinnvoll wäre.Sorge bereitet mir hingegen, dass auch über dreissig Jahre nach Mosers Worten oft immer noch schwarz-weiss argumentiert wird: Wald oder Web? Buch oder Bildschirm? Tinte oder Tastatur? Diese scheinbaren Gegensätze beschreiben jedoch unsere Realität immer weniger. Schreiben von Hand und Computer schliessen sich längst nicht mehr aus, weil immer mehr Geräte das handschriftliche Notieren mit Stift ermöglichen. Bücher lassen sich nicht nur auf Papier, sondern auch auf Tablets und E-Reader lesen. Und eine Schulklasse kann sehr wohl am Vormittag den Wald besuchen und am Nachmittag den Fuchs, den sie im Wald nicht getroffen hat, im Web bewundern.
Bald vierzig Jahre nach dem Einzug der ersten Computer in Schweizer Schulen und Privathaushalte hat sich das Digitale ähnlich stark mit unserem Alltag verwoben wie etwa die Schrift. Ein Leben ohne ist zwar noch knapp vorstellbar, aber doch eher alltagsfern. Niemand würde bei der Schrift behaupten, sie sei an sich gut oder böse. Niemand würde vor zu viel Schrift warnen oder einen schriftfreien Tag pro Woche einfordern – denn selbst beim Wandern in der Natur ist es nicht schlecht, den Wegweiser lesen zu können.
Genauso sollten wir beim Digitalen einsehen, dass es nicht um ein simples «Mehr!» oder «Weniger!» gehen kann. Wir müssen genauer hinschauen. «Jetzt sitzt er oder sie schon wieder vor dem Bildschirm!», kann vieles heissen. Liest er ein Buch? Schaut sie fern? Macht er Hausaufgaben? Spielt sie ein Computerspiel? Kommuniziert er mit Kollegen?
Wenn uns jemand erzählt, im Silicon Valley würden immer mehr Eltern ihre Kinder in Waldorf-Schulen schicken, müssen wir uns fragen, woran das liegt: Wollen die Computerfachleute ihre Kinder möglichst lange vor dem Digitalen bewahren oder können sich Gutverdienende schlicht eher Privatschulen mit besserer Betreuung leisten?
Auch die Geschichten von Apple-Gründer Steve Jobs und Microsoft-Gründer Bill Gates, die ihre Kinder angeblich vor digitalen Medien ferngehalten haben, klingen erst einmal überzeugend: «Die beiden wussten um die problematischen Aspekte dieser Geräte – vielleicht sollten wir das mit unseren Kindern ähnlich handhaben!» Ruft man sich aber in Erinnerung, dass die zwei ihr Studium abgebrochen haben, wünscht man sich vielleicht doch andere Vorbilder für Sohn und Tochter.
Deshalb: Seien Sie kritisch! Einerseits: Digital ist nicht automatisch besser. Andererseits: Trifft die Kritik wirklich nur auf das Digitale zu? Machen Sie den Bücher-Check, wenn Ihnen wieder mal ein Argument gegen die Digitalisierung begegnet! Ersetzen Sie im Argument den Begriff «Computer » durch «Bücher» und fragen Sie sich: Ist das mit Büchern nicht ähnlich? Macht ständiges Lesen wirklich weniger einsam und dick als Computer und Internet? Geben Bücher nicht genauso nur eine medial vermittelte Wirklichkeit wieder, wie dies Computern und Internet vorgeworfen wird? Ich freue mich auf künftige Diskussionen mit mehr Farben als bloss Schwarz und Weiss!24 Stunden später: Nach dem Lego-Prinzip stellen die Lehrpersonen Befehlsbausteine zu komplexen Computerprogrammen zusammen. Zu zweit sitzen sie vor bildschirmfüllenden Befehlsfolgen und diskutieren eifrig: «Müsste dieser Befehl nicht in die Schleife hinein, damit er nicht nur zu Beginn ausgeführt wird?» Als wir die Teilnehmenden darauf ansprechen, staunen sie selbst: Bereits am zweiten Kurstag fachsimpeln sie über ihr erstes selbst programmiertes Computerspiel!
Im Kurs wird viel gelacht, experimentiert, aber auch intensiv nachgedacht. Wider Erwarten sitzen die Lehrerinnen und Lehrer auch nicht stundenlang vor ihren Bildschirmen. Sie zeichnen mit Filzstiften Wege für Roboter, machen als Gruppe ein Rollenspiel zu den Bestandteilen eines Smartphones und lernen, mit zwei Händen bis auf 1000 zu zählen. Abends sind alle müde und erschöpft: Die Lehrerinnen und Lehrer sind es nicht mehr gewohnt, eine ganze Woche Schülerin oder Schüler zu sein und dauernd etwas Neues lernen zu müssen, und für uns von der Forschungsabteilung ist es anstrengend, eine ganze Woche ununterbrochen zu unterrichten – für beide Seiten eine lehrreiche Erfahrung.
Nach unseren bisherigen Weiterbildungen für den neuen Bereich «Medien und Informatik» des Lehrplans 21 bin ich zuversichtlich: Wenn es gelingt, den Primarlehrerinnen und Primarlehrern die vielfältigen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sich Informatik attraktiv und altersgerecht – auch in Kombination mit anderen Fächern – vermitteln lässt, wird das Thema in der Primarschule gut ankommen. Damit ist ein erster Grundstein für das Lernen über digitale Medien gelegt.
Die Einführung des Lehrplans 21 wird uns aber noch Jahre beschäftigen. Als Nächstes gilt es, Erfahrungen im Unterricht zu sammeln und das Gelernte umzusetzen. Vielleicht erklären dann bald die Schwyzer Kinder ihren Eltern, was die kommenden Volksabstimmungen mit Informatik zu tun haben und was die technischen Hintergründe sind!
PS: Unser Material können Sie bei Interesse auch anschauen, wenn Sie nicht in unsere Kurse kommen: http://iLearnIT.ch/broschuerenIch kann Auto fahren, kochen und Kinder bekommen, ohne viel über Physik, Chemie oder Biologie zu wissen. «Überlebenswichtig» sind diese Fachgebiete somit nicht - wenn ich nicht lesen, schreiben und rechnen kann, habe ich deutlich grössere Probleme im Alltag. Die Naturwissenschaften eröffnen mir jedoch Sichtweisen auf die Welt: Die Physik erklärt mir die Welt aus physikalischer Perspektive, Chemie und Biologie machen dasselbe aus ihrem Blickwinkel. Wenn ich mehrere dieser Perspektiven kenne, erkenne ich auch, dass es nicht eine alles erklärende Sichtweise auf die Welt gibt. Die physikalische, die chemische und die biologische - aber auch alle anderen in der Schule vermittelten Perspektiven - erlauben mir zu vergleichen, zu hinterfragen und mündig zu handeln.
Um die chemische Perspektive zu verstehen, reicht es jedoch nicht, Atommodelle und Versuche theoretisch im Lehrbuch anzuschauen. Eigene Experimente sind für das Verständnis von Chemie wichtig. Im Chemielabor wird die chemische Theorie mit allen theoretischen und praktischen Facetten zum Leben erweckt. Im Labor lernen Schülerinnen und Schüler zu denken wie Chemikerinnen und Chemiker. Sie erkennen, dass theoretisches Wissen notwendig ist, bevor man im Labor etwas ausprobiert. Und sie erleben auch, dass trotz theoretisch bester Vorbereitung nicht immer alles so herauskommt wie geplant.
Derzeit ist die Digitalisierung daran, unsere Welt zu verändern. Unser berufliches, privates und gesellschaftliches Leben wird immer stärker durch digitale Technologien geprägt und ist ohne Verständnis ihrer Funktionsweise nicht mehr durchschaubar. Zu einer zeitgemässen Allgemeinbildung gehört somit neben einer physikalischen, chemischen und biologischen auch eine informatische Perspektive. Schülerinnen und Schüler sollten in Grundzügen die Gesetze des Digitalen verstehen. Tun sie das nicht, so fehlt ihnen eine wichtige Sichtweise auf die heutige Welt.
In der Informatik hat das Programmieren einen ähnlichen Stellenwert wie das Experiment und das Labor in der Chemie. Viele - nicht alle - Aspekte der Informatik lassen sich mithilfe des Programmierens illustrieren, und viele Probleme der Informatik werden mit Programmieren gelöst. Beim Programmieren kommen Theorie und Praxis zusammen. Wie im Chemielabor zeigt es sich letztendlich, ob eine Herangehensweise auch in der Praxis funktioniert. So wie das Fach Chemie jedoch mehr als nur das Chemielabor umfasst, sollte auch Informatik nicht mit Programmieren verwechselt werden. Informatik umfasst auch ein Verständnis von Datenbanken oder der Funktionsweise des Internets - Themen, die wenig mit Programmieren zu tun haben.
Bereits in der Primarschule wird Physik, Chemie und Biologie gemacht, meist ohne es so zu bezeichnen. In unseren Lehrveranstaltungen an der Pädagogischen Hochschule Schwyz zeigen wir Wege auf, wie sich in der Primarschule altersgerecht und motivierend Informatik vermitteln und programmieren lässt, ohne dass diese Begriffe im Vordergrund stehen müssen.Autofahren lässt sich als isolierte Fertigkeit innert kurzer Zeit gut ausserhalb der Schule erlernen. Die Bedienung eines Autos hat sich in den letzten 50 Jahren nicht gross verändert, und mit Autos kann man primär eines: fahren. Digitale Medien, also Computer, Tablets, Smartphones etc. sind dagegen Universalwerkzeuge, deren Möglichkeiten laufend zunehmen. Im Gegensatz zum Auto genügt es nicht zu wissen, auf welches Pedal man drücken muss. Kinder und Jugendliche benötigen ein vertieftes Verständnis der digitalen Welt, um sich mündig in ihr bewegen zu können.
Hier kann nur die Schule die Chancengerechtigkeit gewährleisten. Wo, wenn nicht in der Schule, sollen Kinder und Jugendliche lernen, mit digitalen Medien vernünftig umzugehen? Nur in der Schule werden alle Schülerinnen und Schüler erreicht, unabhängig von den Möglichkeiten der Eltern, die erforderliche Medienbildung zu übernehmen. So hat sich die Stimmung an Elternabenden in den letzten Jahren stark gewandelt. Die meisten Eltern begrüssen es heute sehr, wenn sie bei der anspruchsvollen Aufgabe unterstützt werden, einen mündigen und kritischen Umgang mit Medien zu vermitteln. Die Schule kann auch ein differenzierteres Bild von digitalen Medien vermitteln. Während diese im privaten Umfeld vorwiegend als Unterhaltungsgeräte wahrgenommen werden, kann die Schule dazu beitragen, die Geräte auch als Werkzeug zum Lernen und Arbeiten zu sehen und zu verwenden. Die langjährigen Erfahrungen an der Projektschule Goldau zeigen, dass dies kein praxisferner Wunschtraum, sondern eine durchaus realistische Folge des gezielten Computereinsatzes an der Schule sein kann.
Die sitzen doch zu Hause schon genug vor dem Bildschirm!», ist auch verbunden mit dem Vorurteil, dass Schülerinnen und Schüler dauernd vor digitalen Geräten sitzen würden, sobald diese in der Schule verfügbar sind. Auch da sprechen die Erfahrungen der Projektschule Goldau eine andere Sprache. Etwa 10 bis 15 Prozent der Unterrichtszeit arbeiten die Schülerinnen und Schüler mit den jederzeit verfügbaren, persönlichen Digitalgeräten. Weder der Sportunterricht, die Schulreisen noch die allgemeine Bewegung haben deswegen in der Projektschule Goldau abgenommen. Eigentlich nicht verwunderlich: Niemand würde erwarten, dass die Wandtafel dauernd genutzt wird, nur weil sie im Schulzimmer hängt. Genutzt wird sie, wenn es didaktisch sinnvoll ist. Bei den digitalen Geräten müssen wir uns eine ähnliche Gelassenheit erst angewöhnen. Auch der erste Zwischenbericht einer mehrjährigen Tabletstudie der Pädagogischen Hochschule Schwyz kann vielleicht die Gemüter etwas beruhigen. Es hat sich gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler, die in der Schule über ein persönliches Tablet verfügen, deswegen zu Hause nicht häufiger Computerspiele spielen.
Die Zeit des «entweder – oder» ist bei digitalen Medien in der Schule definitiv vorbei. Es geht um ein sinnvolles «sowohl – als auch». Die Schule steht vor der dreifachen Herausforderung, mit, über und trotz digitaler Medien zu unterrichten. Ich freue mich darauf, auch die diese Woche eingetretenen Erstsemestrigen an der Pädagogischen Hochschule Schwyz auf diese anspruchsvolle Aufgabe vorzubereiten!